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Vorbemerkung

 30 Jahre war ich gerne Lehrer an einer nicht ganz unproblematischen Schule. Oft waren Freunde fassungslos, wenn ich von meinem Schulalltag erzählte. Das sei ja furchtbar, bekam ich oft zu hören. Dass das aber nicht schrecklich, sondern einfach anders war, konnte ich oft nicht verständlich machen. Darum habe ich bis jetzt 40 Schulgeschichten geschrieben, einige werden noch dazu kommen. Ich habe mir nichts ausgedacht, vieles habe ich sogar wörtlich wiedergegeben, nur verdichtet und zeitlich umgestellt. Die Namen sind alle verändert.
 
Wichtig ist mir: Ich habe sehr gern an dieser Schule gearbeitet und die Schüler gemocht. Sie hatten oft großen Witz, Charme und haben meist auch unter widrigen Umständen viel gelernt. Unter gar keinen Umständen will ich mich über irgendjemanden lustig machen, ... viel Lustiges habe ich aber wirklich erlebt.

Alltag mit Nägeln und Nilpferd

       copyright: © Thomas Benthack, November 2o19

 
Fröhlich betrete ich um 7.50 Uhr das Schulgebäude und, nachdem ich mich dahin durchgedrängelt habe, auch das Lehrerzimmer. Die KollegInnen stehen Schlange, kopieren, leeren ihre Postfächer und entnehmen den verschiedenen digitalen Informationsmedien erhellende oder verstörende Nachrichten. Bleibt Zeit für kurze Begrüßungen und Gespräche. "Thomas", meint meine Kollegin Ute, "du musst dringend mit Sultan sprechen! So geht das nicht. Gestern im Arbeitslehre-Kurs hat sie sich zum Schluss sogar geweigert, die Teller (mit Vaseline) abzuwaschen. Wir haben mit Gipsbinden gearbeitet! Ich mach dieshabe keine Lust mehr auf diese Diskussionen. Es ist so schon anstrengend genug." "Ja, ich sprech' mit ihr", erwidere ich ein wenig resigniert, denn ich kenne Sultan noch nicht mal so lange, habe sie mit einer 10. Klasse neu übernehmen müssen, nachdem die vorhergehende Klassenlehrerin die Schule gewechselt hat. Aber erstmal in den Unterricht.
 
Nach mir kommt Steffi in die Klasse gestürzt. "Du Hurensohn!!" schreit sie Centila wütend an. Das sieht ja nicht nach friedlichem Unterrichtsbeginn aus. Ich rufe sie zu mir. Auf meine Kritik an dieser Beleidigung folgt eine Kaskade von Rechtfertigungen, die von einiger argumentativer Erfahrung zeugt. Erstmal so: "Das war nur Spaß!" "Nein, das war kein Spaß. Überhaupt nicht lustig." Na gut. Dann eben anders: " Sie hat mich vorher beleidigt!" "Das ist trotzdem kein Grund!" Also ein neues Argument: "Ich kann sie ja gar nicht beleidigt haben, sie ist ja eine Frau!" Genau, aber ist das die Art von geistiger Flexibilität, die wir uns wünschen? Na ja, jetzt erstmal Unterricht .
 
Biologie. Evolutionslehre. Wie das Leben entstanden ist? Ganz klar, das war Gott, er hat Adam und Eva erschaffen. Wie bitte? Andere Meinungen in der Klasse. Keine Meldungen. Das ist eine 10. Klasse! Sowas hatte ich noch nicht. Mein Hinweis auf die Entwicklung der Lebewesen, die im Unterricht betrachteten Fossilienfunde und die Möglichkeiten, deren Alter zu bestimmen, verpuffte. "Trotzdem, das muss ja nicht stimmen!" "Und, Herr Benthack, sagen sie mal selbst, sonst würde in der Bibel doch nicht stehen, dass der 7. Tag Gottes Ruhetag war!" Diese Logik kann ich nicht ganz nachvollziehen und bleibe erstmal bei der naturwissenschaftlichen Argumentation. Da werde ich wohl noch einiges zu tun haben. "Außerdem: Diese Erkenntnisse widersprechen doch nicht dem Gottesglauben, die Schöpfungsgeschichte kann man als ein Bild für die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen auf der Erde sehen." Nein, es stünde sowohl in der Bibel, als auch im Koran anders. "Herr Benthack, an was glauben Sie eigentlich?" Einige haben da wohl eine Vermutung und in diesem Moment glaube ich, dass sie den Himmel sich über mir öffnen sehen und ..., na besser nicht dran denken. Ich blicke nach rechts und erschrecke: eine kollabierende oder im Gesicht schwerverletzte Schülerin, die seelenruhig neben mir sitzt? Ich muss genauer hinsehen. Nein, das ist ... "Was machst du denn da?", frage ich und erkenne in diesem Moment so etwas wie Formklammern für Wimpern, die Miracle an ihren Augen angebracht hat, an zwei kleinen Griffen festhält und irgendwie ihre Wimpern in Form zu bringen versucht. Jetzt aber ruhig bleiben, die Kosmetikstunde gegen allerlei Argumente ("Macht doch nichts, bin doch gleich fertig!") beenden und weiter im Text. Da komme ich dann wieder auf das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Glauben, Toleranz und die Notwendigkeit der Akzeptanz anderer Glaubensvorstellungen zu sprechen. Auch das Christentum habe da eine unselige Vergangenheit, z.B. in Bezug auf Protestanten und Katholiken und "Genau", fällt mir Kimi wissend ins Wort, "das war doch dieser Lutter ... Matthäus!" Aber abgesehen von solchen Kleinigkeiten sind wir nun wieder einer Meinung. "Wir haben doch nichts gegeneinander, Herr Benthack! Wir machen uns damit nicht an." Und dann Adile zu Steffi: "Von mir aus kannst du an dein(en) Jesus glauben!" Und Steffi daraufhin: "Ich beleidige ja auch nicht dein(en) Muhammed Ali!" "Ja wieso, das is' doch `n Boxer!" Und Steffi darauf: "Is' doch auch egal!" Es läutet und alle gehen angeregt diskutierend in die Pause.
 
Anschließend in der OZ spreche ich Sultan auf ihre gestrige Putzverweigerung an. Begeistert streckt sie mir ihre Finger entgegen: "Kann ich doch gar nicht! Ich hab Nägel! " Siegerlächeln auf ihrem Gesicht. "Damit kann man nicht putzen!" Allerdings, diese Nägel hatte ich bisher übersehen, schreiben lässt sich damit wohl auch nicht, aber - mit einer speziellen Technik - die Handytastatur bedienen.
 
Anschließend Weimarer Republik. Die Verfassung. Was bedeuten eigentlich "Unverletzlichkeit der Wohnung" oder "menschenwürdige Behandlung"? .....
 
 
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Thomas Benthack

hat Schule gemacht und dabei viel erlebt.


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